Verhaltenskodex und Tabus
Die im Vergleich zu allen Tieren extrem lange Entwicklungszeit der menschlichen Kinder bedarf eines stabilen sozialen Umfeldes, weil die Kinder als schwächste Mitglieder der Gesellschaft in ihrer Entwicklung sehr gefährdet sind, wenn es solche störungsfreie Umgebung nicht gibt. Besonders junge Frauen und Mütter mussten und müssen durch den Schutzschild eines praktizierten Sozialkodex vor Übergriffen geschützt werden.
1/3 Dorfszene mit Mutter und Kindern
Aus der ethnologischen Forschung wissen wir, dass Naturvölker, die bis in die Neuzeit oder Jetztzeit hinein nackt oder fast nackt lebten, über sehr ausgefeilte, soziale Regelwerke mit strengen Tabus verfügten, für deren Bruch drastische Strafen verhängt wurden. Zu diesen Tabus gehörte in praktisch allen nackt lebenden Gesellschaften etwa das "Spannen", also das Starren auf Genitalien oder die weibliche Brust, insbesondere aber Berührungsverbote. Nicht einmal Berührungen der Hand oder des Arms einer Frau waren den Männern erlaubt.
Beispiele: Wer eine unverheiratete Frau berührte, musste sie heiraten oder, falls das nicht möglich war (z. B. weil der Täter bereits verheiratet war), ihr die gesamte Aussteuer stiften, was in der Regel zum eigenen existenziellen Ruin führte. Wer eine verheiratete Frau berührte, musste oft sein gesamtes Hab und Gut als Entschädigung an ihre Familie abtreten. Die Berührung einer Brust oder gar der Vulva wurde vielerorts mit dem Tode oder lebenslanger Verbannung bestraft.
Gegenüber solch strengen Regelwerken klingen die gemäßigten Soll-Vorschriften der 10 Gebote, die Basis für das jüdische Volk waren und von Christen wie Muslimen mangels eigener Ideen übernommen wurden, vergleichsweise milde. Allerdings war das jüdische Volk auch eines, dessen Mitglieder sich aufgrund der oben besprochenen Genitalscham und Körperteilscham recht früh zu bekleiden begannen.
Wie der Sündenfall wirklich war: Durch Kleidung wurde die Sünde geschaffen - und nicht umgekehrt
Aus der zunächst vereinzelt beginnenden Kleidungsgewohnheit entwickelte sich alsbald die Kleidung zum Statussymbol, daraus wurde eine Mode. Das offene Tragen von Statussymbolen fördert allerdings Neid, und wo Neid aufkommt, ist die Versuchung eines Diebstahls nicht weit, dem Diebstahl folgt der Raub, und dem Raub schließlich der Mord: Kleidung fördert die Neigung zu kriminellen Handlungen.
Andererseits demonstriert das offene Tragen von Statussymbolen die Überlegenheit und Macht des Höher-Rangigen. Offener Ausdruck von Überlegenheit und Macht führen aber sehr schnell auch zu Unterdrückung und Missbrauch dieser Macht. Kleidung etabliert und festigt also Ungleichheit zwischen den Menschen und erzeugt so Konflikte und Abhängigkeit.
Schmuck und Kleidung förderte also Spannungen. Verstärkte Spannungen führen aber notwendigerweise auch zu verstärkten Übergriffen, sowohl in der Ausnutzung von Abhängigkeiten als auch im Aufbegehren gegen Machtstrukturen, also insgesamt zu einer Zunahme von Konflikten und Gewalt: Durch Kleidung wurde die Sünde geschaffen. Und nicht umgekehrt, wie es uns die Schöpfungsgeschichte weismachen will.
Trotzdem wurde Kleidung schließlich zur Normalität, und irgendwann, sehr viel später, kam es sogar zu gesellschaftlichen Bekleidungsgeboten. Im biblischen Judentum wird Kleiderlosigkeit mit Armut und Schmach verbunden, ein Hinweis darauf, dass in den bekleideten Gesellschaften Nacktheit alsbald vorsätzlich negativ besetzt wurde.
Kleidung macht ungleich und verleitet zum Tabubruch
Bekleidung bedeckt - schon in ihrer einfachen Form als Schurz - die Genitalien und die mit Körperscham besetzten Ausscheidungsorgane. Sie unterstützt damit natürlich soziale Regeln wie die Blick-Tabus des "Spannens", indem die Objekte begierlicher Blicke unter der Kleidung verschwanden. Unter diesen Umständen konnten die Regeln des Sozialkodex milder ausfallen, wenngleich die schwereren Vergehen wie sexuelle Übergriffe auf andere Menschen auch in bekleideten Gesellschaften weiter unter drastischen Strafandrohungen standen und stehen - ebenso wie bei den nackt lebenden Völkern.
Dass die Entwicklung hin zur Kleidung aber keineswegs zwangsläufig war, beweisen die zahllosen, indigenen Gesellschaften, die bis in die Neuzeit und Jetztzeit ganz oder fast ganz ohne Kleidung auskamen. Zweifellos ist die zivilisatorische Leistung dieser Völker, für ihr Zusammenleben - oft ohne geschriebene Gesetze - einen funktionierenden Sozialkodex zu entwickeln und einzuhalten, weitaus höher zu bewerten als die Zivilisationsleistung jener Völker, die sich mit Bekleidungsgeboten "die Sache leichter gemacht" haben.
Das Problem der bekleidet lebenden Völker war und ist allerdings, dass die Hemmschwelle für schwerere Kodexverletzungen wie "unsittliche Berührungen" oder "sexuelle Übergriffe" durch das Abmildern der leichteren Kodex-Regeln gesunken ist und es deshalb häufiger zu schweren Fällen von Regelverstößen kommt als in nackt lebenden Gesellschaften.
Das sprichwörtliche "Wehret den Anfängen" tut bei den nackt lebenden Naturvölkern seine Wirkung, bei den bekleidet lebenden Völkern werden die "Anfänge" aber als zulässig betrachtet, was natürlich dazu verleitet, es mit den schwerwiegenderen Tabuverletzungen dann auch nicht mehr so ernst zu nehmen. Letztlich wirkt sich diese Abmilderung der Kodexregeln in bekleideten Gesellschaften entsprechend fatal auf die Konflikt- bzw. Kriminalitätsrate aus.
Aus dem hier durchgeführten Vergleich der Entwicklung in nackt bzw. bekleidet lebenden Völkern ist ersichtlich, dass nackt lebende Völker die zivilisatorisch komplexere Leistung erbracht und überdies im Grad der Kodexeinhaltung durch die Mitglieder der Gemeinschaft deutliche Vorteile gegenüber bekleidet lebenden Gesellschaften erhalten haben.
Negativbesetzung der Nacktheit
Abgesehen davon, dass es aus Temperaturgründen eine Kleidungsnotwendigkeit gibt, sobald die Menschen in klimatisch weniger bevorzugten Ländern leben, hat das Leben in einer kleiderfreien Gesellschaft deutliche Vorteile, weil insbesondere die sozialen Verpflichtungen für jeden Einzelnen offensichtlicher und präsenter bleiben.
2/3 Dorfszene mit Fischnetz-Tanz
Die verbreitete Negativbesetzung der Nacktheit in den meisten etablierten, bekleidet lebenden Gesellschaften beruht auf der Entstehungsgeschichte, dass Kleidung zunächst ein Privileg der Elite war und im Laufe der Geschichte Nacktheit mehr und mehr mit Armut in Verbindung gebracht wurde.
Die Negativbesetzung der Nacktheit sollte für zivilisierte Menschen, speziell für Naturisten, jedoch ein Grund sein, die Fragen zur Nacktheit neu zu stellen und aktuelle Antworten zu finden. Bezeichnenderweise finden naturistische Gemeinschaften ganz natürlich gar keine neuen Antworten, sondern es etabliert sich automatisch ein ganz ähnliches Regelwerk von Tabus und Verhaltensnormen, wie sie in der Geschichte die indigenen Völker für sich aufgebaut haben. Naturisten finden sich also automatisch in der dominierenden Sequenz menschlicher Entwicklung wieder.
Wenn wir uns als Naturisten auf die Ursprünglichkeit des nackten Daseins zurückbesinnen, dann können wir das nur tun, weil wir in unserer nackten Gesellschaft einen ganz ähnlichen sozialen Konsens praktizieren wie das die Naturvölker auch taten bzw. tun. Naturisten bedürfen keiner Kleidung als Schutz vor den Blicken anderer, allerdings auch keiner Symbole wie Lendenschnur oder anderer Utensilien, mit denen sie ausdrücken, dass sie sich dem gemeinsamen Konsens ihrer Gemeinschaft unterwerfen.
Naturisten genügt die gemeinsame Überzeugung und das gemeinsame Wissen, dass ein konfliktfreies, nacktes Miteinander nur möglich ist, wenn sich alle an die (selbstverständlichen) Umgangsformen halten, einander respekt- und rücksichtsvoll und mit menschlicher Zuwendung zu begegnen. Die Symbolik der Naturvölker wird ersetzt durch Reflektion und Intellekt der naturistischen Menschen. Und es tut gut zu erleben, dass dies trotz aller Raffinesse des modernen Menschen auch funktioniert!