Nacktheit und Geschlechtlichkeit sind völlig getrennte Aspekte des Lebens
Nacktheit und Geschlechtlichkeit sind zwei völlig verschiedene Aspekte des Lebens, die nichts miteinander zu tun haben. Bei vielen Situationen am Tag ist man nackt, hat dabei aber keinerlei Konnektion zur Sexualität. Trotzdem gibt es Menschen, die glauben, ihre eigene Nacktheit oder die anderer immer mit Sex verbinden zu müssen. Das ist aber eine Sicht, die genauso eingeschränkt ist, wie wenn man unter allen Lichtpunkten am Nachthimmel nur die Venus sehen würde.
Dass Sex etwas mit Fortpflanzung zu tun hat, ist eine relativ junge Erkenntnis in der Menschheits-Geschichte. In den ersten rund 30.000 Jahren, die durch Kulturzeugnisse von Menschen belegt sind (ab ca. 40.000 v. C.), dominierten weibliche Fruchtbarkeits-Symbole die Kunstwelt, und dies spiegelt zweifelsohne die Überzeugung wider, dass die Weiblichkeit für den Fortbestand der Gesellschaft verantwortlich war und weiblichen Idolen und Gottheiten daher Verehrung zuteil werden sollte.
Venus von Willenbrink, ca. 23.000 Jahre alt
Im weltlichen Bereich gab es dementsprechend vielfach matriarchalische Strukturen. Der Dichter Homer (um 800 v. C.) erwähnt in seiner »Ilias« noch Kämpfe mit Amazonen, die spätere Dichtung »Aithiopis« berichtet von Amazonen, die unter ihrer Königin Penthesilea den Trojanern zu Hilfe gekommen seien.
Als matriarchalisch gelten die die neolithischen Siedlungen des fruchtbaren Halbmonds wie Çayönü, Çatalhöyük; Hacılar Höyük, Nevali Cori und Jericho, die frühesten Siedlungen in Mesopotamien oder die Indus-Kultur. Eines der letzten, historisch belegten Staatengebilde dieser Art ist das minoische Reich auf Kreta, das um 1.400 v. Chr. aufgrund einer Tsunami-Katastrophe zugrunde ging. Bis dahin aber wirkte eine matriarchalisch geprägte Herrschaftsstruktur, die über Jahrhunderte hinweg zielorientiert Konfliktfreiheit und Versorgungssicherheit im kretischen Volk garantierte.
Vor ca. 10.000 Jahren eroberte von Indien aus die Erkenntnis die Welt, dass ohne das männliche Sperma die Fruchtbarkeit der Frauen gar nichts nützt. In Folge dieser Erkenntnis wurde der Phallus neues Fruchtbarkeits-Symbol, das nach und nach die herkömmlichen, weiblichen Fruchtbarkeits-Symbole wie Brüste, Vulva und üppige Hüften ersetzte, und vielerorts entwickelte sich ein ausgesprochener Phallus-Kult, dessen Riten etwa aus Griechenland und Ägypten vielfach überliefert sind.
Frau trägt einen hölzernen Riesen-Phallus beim Fest zu Ehren des Gottes Dyonysos (Griech. Vasenmalerei ca. 300 v.C.)
In Teilen Japans werden derlei Fruchtbarkeits-Feste auch heute noch gefeiert. Dazu gehören etwa die Feierlichkeiten am Magata-Schrein, am Kanayama-Schrein in Kawasaki oder auch Hōnen-matsuri am Tagata-Schrein.
Die zunächst verbreiteten matriarchalischen Strukturen wurden im Lauf der Zeit durch patriarchalische abgelöst
Natürlich hat der Sexualtrieb auch ohne die Kenntnis, dass das männliche Sperma Auslöser für die Empfängnis der Frau ist, zu allen Zeiten seine Aufgabe erfüllt - bei den Menschen so wie bei allen anderen Lebewesen, denn sonst wären sie schließlich längst ausgestorben. Aber das Wissen um das sexuelle Zusammenwirken der Geschlechter und die Empfängnis auslösende Wirkung des Spermas hat die Denkweise in der Welt innerhalb der letzten 10.000 Jahre nachhaltig verändert.
So entstanden nicht nur neue religösen Riten und Feierlichkeiten zur Verehrung des Phallus, sondern es kam in vielen Gesellschaften auch dazu, dass sich der männliche Teil der Gesellschaft stärker gegenüber dem weiblichen durchsetzte, und vermehrt matriarchalische Strukturen durch patriarchalische abgelöst wurden.
Das hatte auch zur Folge, dass der Einfluss menschlicher Eigenschaften, die eher dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind, gegenüber anderen, eher männlichen Eigenschaften vermindert wurde, und sich bald ein Wechsel manifestierte:
- ► Ausgleichsvermögen → Dominanzwille
- ► Harmoniestreben → Machtstreben
- ► Fürsorglichkeit → Eigennutz
- ► Sozialbindung → Herrschaftsanspruch
- ► Zankbereitschaft → Kampfbereitschaft
- ► Güterteilung → Besitzwille
Das Minoische Reich auf Kreta, das über Jahrhunderte ohne Kriege existierte, ist nur ein Musterbeispiel, wie segensreich eine matriarchalische Führung für ein Land sein kann. In der Tat hat es in der Geschichte auch ausgesprochen kriegerische Frauen-Herrschaften (Amazonen) gegeben, aber von der Veranlagung her scheinen Frauen die besseren Diplomaten und die sozialeren Verwalter zu sein.
Bis in die heutige Zeit haben nur einige indigene Gruppen eine dominierende Rolle der Frauen, speziell der Mütter, erhalten (z. B. die Mosuo in
China, die Khasi in
Indien, oder die Juchitán in Mexiko). Diese Gesellschaften leben allerdings kein Matriarchat (eine Gesellschaftsordnung, die vorrangig von Frauen geprägt ist) sondern eine Matrilinearität (die Weitergabe und Vererbung von sozialen Eigenschaften und Besitz ausschließlich über die weibliche Linie von Müttern an Töchter).
Die Zukunft der Menschheit braucht die Gleichgewichtung und Gleichberechtigung der Geschlechter
Für unsere heutige Praxis der Nacktkultur hat diese Geschichte der Menschheit eine wichtige Konsequenz: Wir Naturisten wollen dazu beitragen, die Überbetonung des Phallus und Dominanz der Männlichkeit, die seit ca. 10.000 Jahren die Menscheitsentwicklung belastet, auf die gleich wichtige und gleich gewichtete und gleich berechtigte Stellung neben der weiblichen Empfängnis zurück zu führen.
Die Gleichberechtigung von Mann und Frau, erst 1948 in der UN-Menschenrechtscharta verankert, wartet noch immer auf die weltweite, praktische Umsetzung im Alltag, auch in Deutschland.
Dies gilt allerdings insbesondere für viele Kulturen, die stark durch eine Religion geprägt sind, in der "das Weib als dem Manne untertan" gelehrt wird. Viele der heutigen Staaten lassen es nicht nur zu, dass Frauen grundsätzlich schlechter gestellt sind als Männer, sondern oftmals werden Frauen sogar die elementarsten Menschenrechte wie Selbstbestimmung vorenthalten. Das ist schlicht kriminell.
Naturisten wissen, dass Frauen und Männer gleich wichtig und gleich berechtigt sind vor Gott, Allah, Jahwe und - einzig relevant: vor dem Menschheitsgewissen und vor unseren Kindern. Naturisten liegt es am Herzen, die notwendige, komplementäre Ergänzung der Geschlechter zu vertreten und damit ihr gleichberechtigtes Neben- und Miteinander überall auf der Welt zu erreichen, vor allem gegen den offensichtlich kriminellen Machtmissbrauch in diversen patriarchalisch - nein: patri-archaisch - geprägten Weltanschauungen.
Wo immer dies gelingt, könnte das auch wieder zu stärkerem Einfluss matriarchalischer Denkweisen führen, die vormals über Jahrhunderte anhaltenden Frieden ermöglichten, und die heute vielleicht noch den Untergang der Menschheit wie auch unserer Tierwelt aufhalten könnte! Die stärkere Berücksichtigung der Weiblichkeit wird von vielen Denkern unserer Zeit als einziger Ausweg aus der gegenwärtigen, seit 10.000 Jahren dominierenden, Testosteron-gesteuerten Streitlust gesehen, die akut dabei ist, die Menschheit und alles Leben auf Erden in den Abgrund zu stürzen.