Schmuck wirkt bedeckend und löst Bewunderung aus - und den Wunsch zur Nachahmung
Wenn der Rudelchef und seine Lieblingsweibchen sich mit Schmuck behängen, wenn der weise Schamane seine besondere Feder und aufwändig hergestellte Körperfarben trägt, dann werden die einfachen Rudelmitglieder bestrebt sein, sich auch zu schmücken: Schmuck zu tragen regt zur Nachahmung an. Und selbst, wenn die schönsten Schmuckfedern und Muschelschalen immer der Elite zustehen: Auch für die anderen Mitglieder der Gemeinschaft wird es attraktiv sein, es den Promis nachzumachen und sich auch zu schmücken - selbst wenn dazu eine Spatzenfeder und ein einfaches Schneckengehäuse ausreichen müssen.
Aber wer Schmuck trägt, der beginnt dabei, Teile seines Körpers damit zu bedecken. Und wer sich daran gewöhnt hat, Teile seines Körpers zu schmücken und zu bedecken, der mag irgendwann auf diesen Schmuck und diese Bedeckung nicht mehr verzichten. So kann durch Gewohnheit, Schmuck zu tragen, auch die Gewohnheit, Teile des Körpers zu bedecken, gewachsen sein - eine Entwicklung hin zur Kleidung. Und wenn jemandem seine Bedeckung fortgenommen wird oder er gezwungen wird, seinen Schmuck herzugeben, dann schämt er sich womöglich, dass er plötzlich ohne Bedeckung und ohne Schmuck dasteht.
Sich dafür schämen, dass ein Standard oder ein Status verloren geht, ist in einer sozialen Gemeinschaft etwas Typisches, und es kann durchaus sein, dass der beschriebene Zusammenhang für die Geschichte der Scham-Entwicklung eine Rolle gespielt hat.
Schämt sich der Eisbär? Nein! Die Geste täuscht.
»Scham« ist eine komplexe Angelegenheit - mit dem Begriff wollen wir uns deshalb noch etwas genauer beschäftigen.
Schamgefühl - Ursachen und Wirkung
Definition: Scham ist ein angstbesetztes Empfinden, das meist durch eigenes und von anderen beobachtbares Fehlverhalten ausgelöst wird, durch das man deren Achtung zu verlieren droht (Quelle:
wiktionary.org)
Scham setzt zum einen voraus, dass es in einer Gemeinschaft Regeln gibt, nach denen sich alle Mitglieder der Gemeinschaft richten (sollen), gegen die man also auch verstoßen kann - mit der möglichen Folge, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Zum zweiten setzt Scham aber auch die geistige Fähigkeit voraus, dass man sich in die Gedanken, Wünsche und Ziele anderer Mitglieder der Gemeinschaft eindenken kann.
Bei der Fähigkeit, sich in andere einzudenken, spricht man von »Intentionalität«. Dieses Wort beschreibt unterschiedliche Denkebenen, zu denen ein Lebewesen fähig ist.
1. Ordnung: Ich habe eine Ansicht über eine Sache.
2. Ordnung: Ich weiß, dass du eine andere Ansicht hast.
3. Ordnung: Ich weiß, dass du weißt, dass ich anderer Meinung bin.
4. Ordnung: Ich vermute, dass du erreichen möchtest, dass ich mich deiner Ansicht anschließen möge, damit ich deine Argumente unterstütze.
5. Ordnung: Ich frage mich, ob du annimmst, dass ich die Absicht habe, dich denken zu lassen, dass ich glaube, dass deine Aussage wahr ist.
2. Ordnung: Ich weiß, dass du eine andere Ansicht hast.
3. Ordnung: Ich weiß, dass du weißt, dass ich anderer Meinung bin.
4. Ordnung: Ich vermute, dass du erreichen möchtest, dass ich mich deiner Ansicht anschließen möge, damit ich deine Argumente unterstütze.
5. Ordnung: Ich frage mich, ob du annimmst, dass ich die Absicht habe, dich denken zu lassen, dass ich glaube, dass deine Aussage wahr ist.
Kinder erreichen etwa mit dem 5. Lebensjahr die 2. Ordnung. Die meisten der heute lebenden Menschen erreichen die 5. Ordnung, wenige auch die 6. Ordnung, ein Teil aber auch nur die 4. Ordnung.
»Die Neandertaler beherrschten die Intentionalität vierter Ordnung. [...] Jeder Hominine mit einer derartigen Fähigkeit zur Mentalisierung hatte die sozialen Gefühle von Schuld, Scham und Stolz - Emotionen, die nur dann möglich sind, wenn man eine Ansicht über die Ansichten eines anderen hat.« [1]
Schuld- und Schamgefühle gab es also sicher schon bei Neandertalern. Aber wofür haben die sich geschämt, und warum und seit wann? Unklar ist sogar, ob die Gewohnheit der Bekleidung zu Scham führte: Man legt ein bedeckendes Teil an den Körper an und gefällt sich (und anderen) damit so gut, dass man es immer wieder trägt und sich so sehr an die Bedeckung gewöhnt, dass man hinterher niemandem mehr zeigen möchte, was man die ganze Zeit bedeckt hat. Oder ob umgekehrt zunächst eine Handlungs-Scham entstand, z. B. weil man gegen eine Rudel-Regel verstoßen hatte, und sich deshalb versteckte - etwa hinter einem (Feigen-) Blatt, wie es uns die biblische Geschichte des Sündenfalls erzählt. Werfen wir also einmal einen Blick auf Dinge, für die wir heute Scham beobachten können.
Sexuelle Handlungsscham
Paarungsbereite Partner unter Tieren haben nicht die geringsten Hemmungen, ihre sexuelle Vereinigung mitten in der Herde zu vollziehen. Das war und ist allerdings anders in Rudeln, die von einem Alpha-Tier beherrscht werden. Alle Menschenaffen (und die meisten anderen Affenarten) mit Ausnahme der Gibbons sind bis heute in Rudeln organisiert und polygam, aber dominiert durch ein Alpha-Tier.
Da die heutigen Bonobos und Schimpansen die nächsten noch lebenden Verwandten des Menschen sind, geht man davon aus, dass auch der Letzte Gemeinsame Vorfahre diese Rudelstruktur besaß und diese auch an die Homininen vererbt hat. So waren sehr wahrscheinlich auch die frühen Menschengruppen, die zusammen lebten, hierarchisch strukturiert, und der Rudelchef übte seine Herrschaft unter anderem damit aus, dass er sein Vorrecht durchsetzte, eine Kopulation untergeordneter Rudelmitglieder mit den Damen des Rudels zu unterbinden und die Damen - nach der gewaltsamen Vertreibung des dreisten Männchens - selbst zu beglücken (so wie es die Rudelchefs in vielen Rudeln heute noch tun).
Aber die einfachen Rudelmitglieder wurden irgendwann so schlau (wie die heutigen Schimpansen), sich für eine solche - eigentlich nicht geduldete - Kopulation abseits zu begeben und zu verstecken.
Diese ursprüngliche Angst-vor-Bestrafung-Reaktion wird als (ein) wahrscheinlicher Ursprung sexueller Handlungsscham betrachtet - beruhend auch auf dem Schuldgefühl, dass man sich über die Regeln im Rudel hinweg gesetzt hatte.
Wann und in welchen Gesellschaften genau eine solche Entwicklung erstmals auftrat und sich im Laufe der Jahrtausende womöglich etablierte, darüber kann es keine eindeutigen Daten geben. Es gibt aber eine große Wahrscheinlichkeit, dass bereits in Neandertaler-Gesellschaften solche Entwicklungen von Scham einsetzten, also irgendwann vor 150.000 bis 50.000 Jahren.
Ausnahme Bonobos: Sex ist eine Freundschaftsgeste und wird etwa 60-mal häufiger ausgeübt als bei Menschen oder Schimpansen
Ausscheidungs-Scham
Für Tiere gibt es kein Problem, auf der Weide Gras zu fressen und direkt neben ihrer Speise ihre Exkremente ins Gras fallen zu lassen. Für auf Bäumen lebende Affen, die sich von Blättern oder Früchten ernähren, ist das Fallenlassen ihres Urins und Kotes kein Problem - das trifft ja höchstens andere.
Regenwald: Ein Bonobo-Weibchen in der Baumkrone entleert seine Blase
Aber am Boden lebende Affen und Menschen können ihren eigenen Ausscheidungen oder denen ihrer Rudelmitglieder auf Schritt und Tritt wieder begegnen. Das gilt insbesondere, seit die Menschen begannen, nicht (wie die meisten Menschenaffen noch heute) täglich einen neuen (Baum-) Platz für das Nachtlager aufzusuchen, sondern auch einmal für einige Zeit ihr Nomadentum zu unterbrechen und sich mehrere Nächte nacheinander auf demselben Baum zur Ruhe betteten. Seit dieser Zeit begegneten sie nach dem Aufwachen, wenn sie vom Baum herab kletterten, sogleich ihren eigenen Kothaufen der letzten Tage. Die Frage lautet also: Wann wurde diese morgendliche Begegnung mit den angehäuften Überresten der Sippe als unangenehm empfunden?
Bis in die Neuzeit hinein wurde menschlicher Stuhl in Städten zusammen mit anderen Abwässern meist in die Gosse entsorgt - dem Jetztmenschen sind also in einigen Gesellschaften auch erst sehr spät Lösungen zu dieser Frage eingefallen.
Bei den Römern gab es allerdings bereits öffentliche Bedürfnisanstalten, in denen man die Gelegenheit zum Plausch nutzte und den Essigschwamm zum Abputzen an den Sitznachbarn weiterreichte, nachdem man sich selbst damit den Hintern abgewischt hatte. Aber die Römer waren nicht die ersten, die die Ausscheidungsvorgänge vom sonstigen Leben trennten, schon um 2800 v. C. gab es in Mesopotamien Toilettenanlagen, und aus dem minoischen Kreta sind sogar Toilettenanlagen mit Wasserspülung bekannt (um 1400 v. C.).
Die Frage, die uns hier interessiert: Wann kam jemand auf die Idee, die Ausscheidungsvorgänge vom eigentlichen täglichen Leben, das primär aus Nahrungssuche und sozialen Kontakten bestand, zu trennen? Wann also wurde so etwas wie eine Basis gelegt für eine Ausscheidungs-Scham?
»Die Theorie vom sozialen Gehirn sagt uns, dass das soziale Umfeld und die Ordnungen der Intentionalität schon viel früher neue Höhen erreicht hatten - und dann stößt man bei näherem Hinsehen auch auf die archäologischen Schattenbilder, die diese Anfänge zeigen.« [1]
Auch bzgl. des Entstehens einer Ausscheidung-Scham gilt: Wann und in welchen Gesellschaften genau diese Entwicklung erstmals auftrat und sich im Laufe der Jahrtausende womöglich etablierte, darüber kann es keine eindeutigen Daten geben. Sowohl der Neandertaler als auch der Homo sapiens besaßen allerdings die für einen solchen Schritt erforderliche Stufe des Geistes: Sie waren in der Lage zu verstehen, dass Ausscheidungsvorgänge für andere Mitglieder der Gesellschaft eine lästige Erfahrung sein konnte. Daraus konnte also womöglich schon früh die Gepflogenheit entstehen, sich für Ausscheidungs-Vorgänge etwas abseits zu begeben.
Vermutlich sehr viel später in der Geschichte vieler Gesellschaften ist dann die Handlungs-Scham für Ausscheidungs- und sexuelle Aktivitäten ergänzt worden durch eine Körperteil-Scham, also die Gepflogenheit, die an sexuellen und Ausscheidungs-Aktivitäten beteiligten Körperteile bei bestimmten Gelegenheiten (z. B. bei Festen und Feiern) oder - noch sehr viel später - auch im Alltag zu bedecken, also Kleidung zu tragen, was meist mit einem Lendenschurz begann.
Zusammenfassung
Das Tragen von Schmuck und Statussymbolen und damit die Heraushebung einzelner Menschen als besondere Wissens- und Würdenträger hatte den Eliten schon früh die Möglichkeit geboten, den Schmuck auch bedeckend zu verwenden, und dies konnte zur Gewohnheit werden. Es wundert also nicht, dass Kleidung in den einzelnen Gesellschaften sich als erstes in der jeweiligen Oberschicht etablierte. Außerdem konnte sich so etwas Exklusives nicht jeder leisten!
Ungeklärt ist aber, wann genau Menschen begannen, Kleidung zu tragen. Als eindeutigen Hinweis, dass der Neandertaler Tierfelle als wärmende Kleidung verwendete, gilt der Fund von Spuren erhöhter Eichensäure-Konzentration an einem Steinwerkzeug bei Frankleben in Sachsen-Anhalt, dessen Alter auf ca. 200.000 Jahre bestimmt worden ist. Natürlich kommt Eichensäure, die zum Gerben von Tierhäuten gebraucht wird, nur in deutlich geringerer Konzentration vor.
Nach Auffassung des Anthropologen Alexander Pashos lässt sich der geschichtliche Zeitpunkt, seit dem Menschen regelmäßig Kleidung trugen, aus dem Auftreten der Kleiderlaus schätzen. Daraus gefolgert deuten aktuelle Genanalysen auf einen Entstehungszeitraum vor etwa 75.000 Jahren hin.
Andere Forscher wie David Reed setzen den Beginn der Kleidung noch weit früher an. In seiner Publikation »Pair of lice lost or parasites regained: The evolutionary history of Anthropoid primate lice (BMC Biology)« schlussfolgert er eine erste Verwendung von Kleidung vor 650.000 Jahren.
Der älteste archäologische Fund ist ein 23.000 Jahre alter Umhang aus Eichhörnchen-Fell in einer Höhle in Ligurien. Die früheste Verwendung pflanzlicher Rohstoffe für die Herstellung von Textilien (Leinen, Hanf) wurde auf 36.000 Jahre datiert.
Artikel aus
Spektrum der Wissenschaft: Des-Menschen-erste-Kleider
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Literatur
[1] Evolution, Denken, Kultur. Autoren: Gamble, Gowlett, Dunbar. Verlag Springer, 2015. ISBN 978-3-662-46767-1
In diesem Buch entwickeln die Autoren ihre »Theorie des sozialen Gehirns«, die aus Schädelvermessungen von Neandertalern und Jetztmenschen folgert, dass bei beiden Spezies der »Vordere Cortex« (der Teil des Gehirns, in dem soziale Verhaltensweisen gesteuert werden) gleich groß und damit prinzipiell gleich leistungsfähig ausgebildet war. Daraus folgt, dass der Neandertaler für diesen Teil der Gehirnfunktion schon ebenso gut ausgestattet war wie der Homo sapiens.
[1] Evolution, Denken, Kultur. Autoren: Gamble, Gowlett, Dunbar. Verlag Springer, 2015. ISBN 978-3-662-46767-1
In diesem Buch entwickeln die Autoren ihre »Theorie des sozialen Gehirns«, die aus Schädelvermessungen von Neandertalern und Jetztmenschen folgert, dass bei beiden Spezies der »Vordere Cortex« (der Teil des Gehirns, in dem soziale Verhaltensweisen gesteuert werden) gleich groß und damit prinzipiell gleich leistungsfähig ausgebildet war. Daraus folgt, dass der Neandertaler für diesen Teil der Gehirnfunktion schon ebenso gut ausgestattet war wie der Homo sapiens.