Vittorio - Erinnerungen an die Thüringer Naturisten-Tage 2018 [06.02.19]
Die Qualität der Beziehungen
Vittorio kam aus Italien zu den TNT 2018 = Thüringer Naturisten-Tagen. Aus seiner Studentenzeit in Berlin in den 70er und 80er Jahren spricht und schreibt er ausgezeichnetes Deutsch und hat uns seine Erinnerungen an die Wandererlebnisse in Thüringen 2018 zur Verfügung gestellt.
1/9: Vittorio oberhalb des Saale-Tals
Auf den langen Wanderungen, in den Gasthöfen, abends bei der Unterkunft - es wurde ständig geredet. Tausende von Unterhaltungen fanden untereinander statt, mit diesem, jenem und mit einem dritten war man durch Unterhaltung verbunden. Die Leute waren offen, freundlich - und ich habe das besonders vermerkt, weil ich normalerweise nicht so viel und so vielfältig kommuniziere. Ruhig der Geist, sorglos, das Lächeln kam an die Oberfläche und blieb ständig im Gesicht. Ich war jedes Mal glücklich, wenn jemand mit mir sprach, sich mit mir unterhielt. Jeder respektierte den anderen, seine Art und Weise, seine Gewohnheiten, sein besonderes Wesen.
2/9 Beim Spaziergang
2/9 Beim Spaziergang
Die Tatsache, nackt zu sein, war ganz Nebensache, half es doch: es hat uns dazu gebracht, in einem Zustand der Selbstverständlichkeit zu leben, in einer besonderen Beschaffenheit der Gefühle, so dass das Zusammenleben ganz von allein harmonisch verlief.
4/9: Einkehr im Restaurant
6/9: Am Ufer des Stausees Zehn Tage lang, waren es außergewöhnliche Beziehungen zwischen den Menschen, als wären alle schon immer Freunde gewesen, seit jeher freundschaftlich verbunden, jeder wertschätzte den anderen und begenete ihm offen und zugewandt. Wir waren im Urlaub, wir waren alle gut gelaunt, aber ich habe aus dieser Erahrung den Glauben mit nach Hause gebracht, dass dauerhaft positivere Beziehungen zwischen Menschen möglich sind.
4/9: Einkehr im Restaurant
6/9: Am Ufer des Stausees
Natürlicherweise schämten wir uns nicht vor uns selbst, mit unseren Körpern, und die Tatsache, dass das Wort Nacktheit alle seine Berechtigung verlor und keinen Ausnahmezustand mehr bezeichnete, dass es uns nicht mehr "classified" sein ließ oder peinlich erschien, half auf materieller Ebene, keine Ängste, Ungewissheiten und bange Vorsicht mehr zu haben und uns zu verstecken. Wenn man sich im Körper völlig sichtbar fühlt, hat man das Gefühl, auch im Geiste völlig durchsichtig zu sein.
Die natürliche Lage und die Organisation
Thüringen liegt in der ehemaligen DDR. Als Student bin ich nur einmal von Hof nach Berlin durch die DDR gefahren: Dieses Land hatte einen Hauch von Entfernung und Mysterium, fast wie Albanien. Am Bahnhof Friedrichstraße sah ich zum ersten Mal die "berüchtigten" Vopos. Ich konnte die Museen nicht besuchen, weil die Kontrolleure an einem Kontrollpunkt herausfanden, dass mein Personalausweis abgelaufen war. Anfang der '80er Jahre habe ich mir einige Bücher von Erwin Strittmatter (Ole Bienkopp, Der Wundertäter, Tinko, Der Laden) aus der DDR besorgt.
Die DDR behielt ganz und gar ihr Mysterium, ihre Unzugänglichkeit und Ungewissheit. Und jetzt - ich konnte gehen, wohin ich auch wollte.
7/9: Vittorio im Thüringer Wald
Die Unterkunft war genau im Stil der 70er Jahre: spartanisch und vertraut, ohne den "Luxus" des kommerziellen Tourismus.
Die natürliche Umgebung war eine ständige Entdeckung und ein Wunder, als würde man durch ein altes Buch in einer Bibliothek blättern, die schließlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war. Mit dem Gefühl äußerster Sorgfalt in den Feldern und Wiesen und einer echten und ursprünglichen Natürlichkeit in den "wilden" Teilen des Waldes, der scheinbar kein Ende hatte.
Das Wort Turinger Wald spielte in meinem Kopf wie der Versuch, mich an ein Lied zu erinnern, an ein Märchen der Brüder Grimm oder an einen Roman aus dem 19. Jahrhundert (Jean Paul). In diesen Wäldern waren wir da, eine Gruppe von Freunden, nackt und unbekümmert, um weit und breit unter der schattigen Kuppel hoher Buchenwälder zu wandern, die Hügeln entlang, von deren Kamm das Auge kilometerweit am Horizont entlang streifte; mit den Farben des Sommers, die sich in die Augen prägten, das Licht, das als stumme Energie alles in die Gegenwart brachte und realer machte, das sich auf unserer goldenen Haut niederschlug und in die Körper eindrang, um Wohlgefühl zu verbreiten und Lächeln.
Die Müdigkeit konnte ich nicht einmal spüren, nie eine Blase an Füßen, immer eine leichte Brise, die den Schweiß von meiner Haut wischte. Sobald man sich umschaute, sah man jemanden, der vorhatte, etwas zu tun, eine Pause zu genießen, Witze zu machen, etwas zu erfinden, jemandem etwas Schönes zu zeigen oder mitzuteilen, glücklich und glückselig zu schwimmen und andere, die anfingen, die unterschiedlichsten Lebensmittel aus ihren Rucksäcken zu verzehren.
Botschaft von den Bäumen
9/9: Wie klein ist der Mensch
Seit mehreren Monaten, in meinen Wanderungen mit Freunden in Italien, und noch mehr bei meinen frühmorgendlichen Spaziergängen durch die umliegenden Wiesen und Felder, machte ich Bilder von mir selbst, die ich später und auf meinem Bildschirm schaute. Und einmal sah ich mich, winzig und klein [ich muss ein Lied von Reinhard Mey in meinen Ohren haben], aus einem Wald aus hohen, schlanken Eichen und Pappeln heraus kommen. Dieser Moment dehnte sich in meinem Kopf, und ich konnte nicht wegschauen. Es gab eine Kommunikation, etwas, das ich verstand, etwas, das mich mit den Bäumen, den Baumstämmen, dem Laub verband. Eine fast schützende und mütterliche Präsenz: Die Bäume waren der Rahmen meines Seins ohne Zeit und Ort; in meiner Essenz und meinem Bewusstsein verabsolutiert. Mit einer wahrnehmenden Klarheit, die sich in Stimmung verwandelte, einer Verhältnismäßigkeit, einem Gleichgewicht, einer Genauigkeit und Perfektion und der Notwendigkeit, die nur mit einem abstrakten und mystischen Wortschatz versuchen konnte, in Begriffe und Worte verwandelt zu werden.
Das Leben der Bäume und das meine waren dieselben, sie waren eins. Etwas vereinte uns, eine subtile und tiefgründige Ähnlichkeit vereinte uns, eine magnetische Kraft öffnete meinen Verstand zum Verstehen, das Empfindungsvermögen wahrzunehmen, eine parallele Welt zu erkunden, die sich in meinen Sinnen einprägte. "Dinge", von denen ich nie wusste, dass ich sie besaß.
Ich sah eine abgelegene Linde, groß und voller Blätter, und da sah ich mich selbst und hörte sogar den Piepton der Kamera, die die 10 Sekunden vor dem Selbstauslöser zählte. Klein und nackt unter der Majestät und Pracht eines großen Baumes, der mir eine natürliche Größe gab, in einem „neu-menschlichen“ Ausmaß, anders und neuer als zuvor.
Ich sah eine Symbiose, einen roten Faden, eine Nabelschnur, in denen ein Austausch neuer Dinge vonstatten ging. Und diese Dinge fütterten mich auch. Ich wurde empfindsamer, lebendiger, füllte mich, sättigte mich, machte mich darauf wunschlos glücklich - keine Gedanken - kein Streben, ein starkes Vibrieren, ein leises Dröhnen, eine Kraft im Ruhezustand, gleich wie die Bäume, die schön und stark sind, ohne es zu jederzeit zu beweisen. Für diejenigen, die es sehen können, ist es etwas Reales und Offensichtliches.
Und dieser Bäume waren Tausende, Millionen, einer nach dem anderen, Ebenen, Täler und Hänge entlang der Wege bis zum Wasser des Stausees. Und diese Stimmung wurde allmählich das Rückgrat meines täglichen Lebens. Eine lebendige, vegetative und lebenstragende Kraft, die meine Gedanken überwältigte, eroberte. Eine Kraft, die zu einem gewöhnlichen, täglichen modus vivendi geworden ist. Ich fühle, dass ich es bin, ich fühle mich als Person, nicht weniger als Baum, Bach oder Bär.